Brasilien: Warum das vereinfachte Steuersystem die Entwicklung des Landes gefährden könnte

Mithilfe der anstehenden Steuerreform soll das hochkomplexe brasilianischen Steuersystem verschlankt, vereinfacht und den internationalen Best Practices angepasst werden. Soweit so gut und begrüßenswert, insbesondere von Seiten internationaler Unternehmen und Investoren. Aber wird die geplante Steuerreform den Bedürfnissen des unfassbar großen und wirtschaftlich äußerst heterogenen Brasiliens gerecht? Im Namen der Vereinfachung und Einheitlichkeit werden diverse Teilreformen angestrebt, die jedoch in der Realität eine verheerende Wirkung auf die ungleiche Wirtschaftslandschaft Brasilien haben könnten.

 

IBS – Mehrwertsteuer, die Mehrwert zerstört?

Die geplante Mehrwertsteuer IBS soll fünf große aktuell bestehende Steuern ersetzen. Diese existierenden Steuern sind deshalb uneinheitlich, um den Besonderheiten bestimmter Sektoren oder geographischer Regionen in Brasilien Rechnung zu tragen. Die Einführung der IBS würde diese individuellen Festlegungen und Ausnahmen unmöglich machen, was zu einer wirtschaftlichen Verschiebung und im schlimmsten Falle zur Verarmung ganzer Regionen führen könnte.

 

Teilreformen verändern ganze Systeme

Teilreformen wirken nicht im luftleeren Raum, sondern greifen in konkrete Verfassungssysteme, bestimmte Länder und das Leben echter Menschen ein. Die brasilianische Verfassung legt nicht nur Zuständigkeitsregeln und individuelle Grenzen fest, sondern gibt auch strategische und gesellschaftliche Ziele vor. So ist die Wirtschaftspolitik gesetzlich zu folgenden Zielen verpflichtet:

 

  • Aufbau einer freien, fairen und unterstützenden Gesellschaft
  • Gewährleistung der nationalen Entwicklung
  • Beseitigung von Armut und Marginalisierung und Abbau sozialer und regionaler Ungleichheiten
  • Sowie das Wohl aller zu fördern, unbeschadet der Herkunft, der Rasse, des Geschlechts, der Hautfarbe, des Alters und anderer Formen der Diskriminierung

 

Eine dementsprechende wirtschaftliche Ordnung herzustellen bedeutet demnach mehr, als nur für Wirtschaftswachstum zu sorgen. Insbesondere mit Hinblick auf die Reduzierung von Armut steht die Verringerung der regionalen Ungleichheiten im Vordergrund. Dazu müssen diese Regionen aber eine besondere Unterstützung bzw. einen besonderen Schutz erfahren. Hier spielt von staatlicher Seite die Umverteilung eine große Rolle. Die Besteuerung des Verbrauchs durch die Mehrwertsteuer IBS ist bezogen auf diese Herausforderungen ein einfaches aber kein besonders innovatives Modell. Die Verführung der Einfachheit und der Konzentration auf Bundesebene scheint die historischen Herausforderungen Brasiliens nicht miteinzubeziehen.

 

Die Gefahr hinter leichten Lösungen

Das große Problem mit einfachen Lösungen (wie der einheitlichen IBS) ist, dass sie qua Definition keine Antworten auf komplexe Situationen bieten. Im schlimmsten Falle verschleiern oder vergrößern sie sogar das Ausmaß der Probleme. Werden die aktuell weit verbreiteten Steueranreize abgeschafft, steigt die Anzahl der Sozialhilfebezieher und Arbeitslosen, die später durch eine neue politische Lösung adressiert werden müssen. Dies zeigt die Kurzsichtigkeit kurzfristiger Lösungen.

Ob mit oder ohne Mehrwertsteuer, es muss dringend über die lokalen sozialen Strukturen von Regionen mit Entwicklungsschwierigkeiten nachgedacht werden, wobei die wirtschaftliche Komponente nur eine von vielen zu betrachtenden Variablen darstellt. Wer die Komplexität der Ursachen für regionale Ungleichheiten nicht versteht, reduziert sie gerne auf oberflächliche Kosten- und Nutzenanalysen oder kritisiert bestehende Anreizsysteme dahingehend. Tatsächlich können historisch gewachsene, langfristige und strukturelle Probleme aber nicht durch eine gemeinsame Geldquelle (wie sie die Mehrwertsteuer IBS bieten würde) behoben werden.

In der Konsequenz bedeutet dies nicht automatisch, dass die Steuerreform abzulehnen ist. Es bedeutet allerdings, dass die einzelnen Maßnahmen der Reform sowie die Übergangsperiode zur Umsetzung der Reformschritte gut durchdacht und – wo nötig – durch Ausnahmeregelungen ergänzt werden sollte, die den regionalen Besonderheiten Brasiliens Rechnung tragen.

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